• Herzlich Willkommen bei Mutpol
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TUTTLINGEN – Der Adventskranz steht im Wohnzimmer, Wände und Fensterborde sind weihnachtlich geschmückt. Trotz der stimmungsvollen Dekoration: Die Räume im Tuttlinger Bahnhofsgebäude zeigen alles andere als den typisch deutschen Alltag. Auf rund 140 Quadratmetern leben hier zehn Jugendliche in einer Wohngruppe, die ohne ihre Eltern oder Verwandten aus Kriegsgebieten geflüchtet sind oder auf der Flucht von ihnen getrennt wurden.

Sie heißen Jazir, Ahmed, Ramin und Amiran (Namen von der Redaktion geändert) und kommen aus Syrien und Afghanistan, einer ist aus Somalia. Seit September bilden sie eine Wohngemeinschaft auf Zeit und aus der Not heraus. Ihr Tagesablauf ist klar strukturiert. Fünf Betreuer der Jugendhilfeeinrichtung Mutpol, die 24 Stunden am Tag anwesend sind, wollen mit ihren Schützlingen in erster Linie den Alltag trainieren.

7 Uhr wecken, dann Frühstück und Waschen, ehe um 8 Uhr der Unterricht beginnt. Die provisorische Schule ist ein Stockwerk tiefer, hier büffelt Stephanie Walter-Schell mit den Jugendlichen Deutsch, vier Stunden täglich. Noch sind die Sätze einfach gehalten. Aber sie können durchaus spannend sein, etwa wenn sie – wie im Beispiel an der Tafel – Schlagwörter wie "Mädchen" und "Telefon" enthalten. 15 Jahre alt ist der jüngste in der Wohngruppe, 17 der älteste. Bei allem, was die Jungen mitgemacht und hinter sich gelassen haben, darf man nicht vergessen, dass sie mitten in der Pubertät stecken und – zum Glück – auch ganz normale Probleme haben.

Viele haben Kontakt zu den Eltern

"Die Schicksale der Jugendlichen sind teilweise sehr bewegend. Das nimmt man auch mit nach Hause", sagt Mira Kramer. Die Psychologin arbeitet als Sozialarbeiterin in der Wohngruppe. Ihre Kollegin Petra Bäßler, bei Mutpol für die Koordination der unbegleiteten minderjährigen Ausländer, kurz UMA genannt, zuständig, kennt die Biografie fast jedes Jugendlichen. Einer hat Vater und Mutter im Krieg verloren, etliche sind Halbwaisen. Die meisten haben ihre Eltern aber noch und stehen in Kontakt mit ihnen. "Wenn nicht, dann versuchen wir, diesen wieder herzustellen", sagt Bäßler.

Entweder sind die Familien der Jungs in der Heimat geblieben oder sie leben in großen Camps in der Türkei oder im Libanon. "Vor allem die jungen Menschen gehen weiter." Weg von Isis, weg von Angst und Gewalt. In den wenigsten Fällen, so Bäßlers Einschätzung, schicken die Eltern die Kinder auf die Reise, um später nachzukommen. "Die meisten der Jugendlichen planen ihre Zukunft hier alleine." Oft hört sie, dass sie wieder zurückgehen wollen, wenn der Krieg vorbei ist.

Um die traumatischen Kriegs- oder Fluchterlebnisse professionell zu verarbeiten, sei es noch viel zu früh. "Wenn wir gebraucht werden, sind wir da und hören zu." Das Landratsamt stellt Dolmetscher zur Verfügung. So können die jungen Leute sagen, was sie bedrückt. Dabei fließen auch manchmal Tränen. Aus Bäßlers Sicht ist das ein heilender Prozess. Mit 16, 17 Jahren kommen die Jungs nicht mehr, um mit den Betreuern zu kuscheln. Petra Bäßler hat festgestellt, dass sie sich ihr Bedürfnis an Nähe und Trost auf andere Weise holen. Wenn sie nach dem Fußballspielen Schmerzen in den Beinen haben oder der Arm weh tut, dann brauchen sie einen Klecks Salbe, einen Verband – und Zuwendung.

Sprache eröffnet Möglichkeiten

"An erster Stelle steht die Hinführung zum Selbstmanagement dieser Jugendlichen und zur Integration", erklärt Dieter Meyer, Leiter von Mutpol. Deutsch lernen ist das A und O, dessen seien sich auch die Jugendlichen bewusst. Nur so können sie hier eine Zukunftsperspektive entwickeln. Ziel ist es, dass die Kinder in die allgemeinbildenden Schulen wechseln können oder einen Ausbildungsplatz finden.

Doch das ist erst der dritte Schritt: Am Anfang steht das ureigene Bedürfnis der Flüchtlinge nach Sicherheit und Schutz. Bis zu drei Monate nach ihrer Ankunft durchlaufen die UMA ein sogenanntes Clearingverfahren. Das beinhaltet einen Gesundheitscheck, das Erfassen der Personalien, die Suche nach Eltern oder Verwandten und ganz praktische Dinge, wie das Versorgen mit Kleidung und Unterkunft. Viele kommen mit nichts hier an, "das Gepäck haben sie buchstäblich über Bord geworfen".

Doch Petra Bäßler weiß aus Erzählungen, dass viele Jugendliche vor dem Bürgerkrieg in ähnlichen Verhältnissen gelebt haben wie die meisten hier in Tuttlingen. Viele stammen aus der gehobenen Mittelschicht. Sie haben mit ihren Familien im eigenen Haus gewohnt, zwei Autos standen in der Garage. Sie waren auf guten Schulen, hatten hochwertige Klamotten, Handy, X-Box und Computer. Die Häuser sind zerbombt, die Habseligkeiten liegen in Schutt und Asche. Wenn etwas gerettet werden konnte, passt das in einen kleinen Rucksack.

Deutschland ist für die UMA ein sicherer Zufluchtsort. Doch liegt hier auch ihre Zukunft? "Unser Rhythmus ist ein anderer, unsere Sichtweisen, die ganze Kultur", sagt Petra Bäßler. Die Herausforderung für jeden Jugendlichen besteht aus ihrer Sicht darin, im Inneren wahrzunehmen, "ob ich hier richtig bin und vor allem, was ich für die Zukunft möchte". In diesem Findungsprozess stehen ihnen die Betreuer zur Seite. Auch wenn die weitere Zukunft noch verschwommen ist: Die Richtung für die nächsten Tage haben die Zehn vom Bahnhofsplatz klar formuliert. "Sie wollen ein richtig, echtes deutsches Weihnachtsfest feiern", sagt Petra Bäßler und lacht. An Heiligabend wird zusammen gegessen, einige gehen danach in die Kirche. Die Betreuer haben kleine Geschenke besorgt. Und das letzte Türchen des Adventskalenders wird endlich geöffnet. Er ist von Panini und zeigt die Fußballnationalmannschaft. Die deutsche.

Privatsphäre

Die unbegleiteten minderjährigen Ausländer (UMA) kommen im Landkreis in vorläufige Inobhutnahme des Jugendamts. Über das Familiengericht wird ein Vormund bestellt, in der Regel Angestellte des Jugendamts. Der Vormund entscheidet für das Kind, immer mit Blick auf sein Wohlergehen. Das betrifft auch den Umgang mit der Öffentlichkeit. So durften wir die Namen der Jugendlichen nicht veröffentlichen und keine Gesichter in der Zeitung zeigen. Aber der Gränzbote wird die Schicksale dieser Jugendlichen weiter verfolgen und in drei Monaten nochmals berichten.

Sieben Jugendliche leben in Pflegefamilien

Seit November werden die UMA nach dem Königsteiner Schlüssel – bezogen auf Einwohner und Wirtschaftskraft – auf die Landkreise verteilt. Für den Kreis Tuttlingen sind bis Jahresende 93 unbegleitete minderjährige Ausländer angekündigt worden, Stand 8. Dezember waren tatsächlich 52 UMA hier registriert. Die meisten werden von der Jugendhilfeeinrichtung Mutpol betreut. Allein 26 Kinder und Jugendliche sind in einem eigens geräumten Schulhaus in der Erstaufnahme untergebracht, hier durchlaufen sie auch die Clearingphase. Dann entscheidet sich die weitere Unterbringung. Neben den Wohngruppen kommt betreutes Wohnen in Zwei- bis Vierzimmerwohnungen infrage, manche wollen auch alleine wohnen. Sieben UMA sind in Pflegefamilien untergebracht. Für 2016 rechnet der Landkreis mit 93 minderjährigen Flüchtlingen.

Der Name Mutpol steht für den Verein Diakonische Jugendhilfe in Tuttlingen. Knapp 300 Mitarbeiter bieten über 500 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie deren Familien Hilfestellungen in den unterschiedlichen Lebenslagen. Unter anderem ist Mutpol Träger der Gotthilf-Vollert-Schule für Erziehungshilfe mit Stammsitz in Tuttlingen und hat Außenstellen in vier Landkreisen.


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